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Mutterschaft, Quereinstieg, Selbstständigkeit: Ein Gespräch
Hallo Annette, wer bist du eigentlich? 😊
Ich bin Annette Gaudet-Ritter, Französin, in Paris geboren und CH-F Doppelbürgerin durch Heirat.
Nach dem Baccalauréat habe ich an der HEC (Hautes Etudes Commerciales, eine Business Hochschule) studiert.
Was war dein Traumberuf als Kind?
Als Kind hatte ich keinen Traumberuf. Ich wollte einfach arbeiten, um (finanziell) unabhängig zu sein.
Was war dein erster Job?
Mein erster Job war in Paris in der Pharmaindustrie (im Bereich Market Research), dann habe ich ein Praktikum in den amerikanischen Headquarters der gleichen Firma in den USA gemacht, (wo ich meinen zukünftigen Ehemann traf). Anschliessend sind wir zurück nach Paris gegangen und ich habe in der französischen Filiale gearbeitet. Irgendwann haben wir geheiratet und sind in die Schweiz gezogen, wo ich in den europäischen Headquarters des Pharma-Unternehmens für 5 Jahre lang im International Marketing arbeitete und zweimal pro Monat in die verschiedenen Filialen reiste.
Dann kam die Babypause. Erst hatten wir ein, dann zwei Kinder. Ich konnte nicht mehr in der gleichen Firma weiterarbeiten, weil sie keine Teilzeitarbeit erlaubte. Also fing ich an, zu übersetzen.
Der Weg zurück ins Berufsleben / Beruf und Elternschaft
Wie hast du den Schritt zurück ins Berufsleben erlebt?
Es war schwierig, weil ich niemanden kannte (früher war ich ständig am Reisen) und ich musste mich organisieren und Lösungen für das Kinderhüten finden.
Was hat dich am meisten motiviert, dich beruflich neu zu orientieren?
Ich musste eine Arbeit finden, die ich daheim machen konnte. Um so mehr, weil mein Mann für seine Arbeit die ganze Woche abwesend war und ich allein mit den Kindern blieb.
Welche Vorteile (und vielleicht auch Nachteile) siehst du darin, selbstständig zu arbeiten? Auch speziell als Mutter?
- Daheim arbeiten ist praktischer (wenn man sich so organisiert hat, dass die Kinder in die Spielgruppe/Kindergarten/Schule/Mittagstisch gehen können.)
- Es ist gut für die Finanzen und für das Selbstwertgefühl.
Was würdest du Eltern raten, die nach einer längeren Pause wieder in den Beruf einsteigen möchten?
Man muss immer in Kontakt mit den alten Kolleg:innen bleiben und eine Tür zu der ehemaligen Firma offenlassen. So konnte ich französische Übersetzungen für meine Pharma-Kolleg:innen machen (ich kannte ja die Produkte) und arbeitete auch für meinen Mann, der in der Kosmetikbranche tätig war.
Quereinstieg & neues Lernen
Was war dein grösster Aha-Moment im Quereinstieg?
Als ich mir ein Studio mit einem kleinen Garten in einem Gebäude in der Nähe mieten konnte. Die Kinder waren grösser und selbstständiger und in meinem Studio konnte ich in aller Ruhe übersetzen. Am Anfang arbeitete ich in meinem Schlafzimmer, musste sogar eine extra Steckdose für meinen PC installieren lassen.
Gab es Momente, in denen du gezweifelt hast? Falls ja, wie bist du damit umgegangen?
Sicher, gab es schwierige Momente. Es ist nicht einfach, mit zwei Kindern daheim zu arbeiten, speziell, wenn sie noch klein sind. Es fehlt manchmal die Ruhe und man muss gute Nerven haben.
Selbstständigkeit & Freelancing in der Schweiz
Warum hast du dich für die Selbstständigkeit entschieden?
Das war in dieser Zeit die einzige Lösung, wenn ich weiterarbeiten wollte.
Wie hast du deine ersten Kunden gefunden?
Wie gesagt, zuerst die alten Kolleg:innen und die Übersetzungen für meinen Mann. Dann wechselten diese Personen den Job oder die Firma, aber gaben mir weiter Texte zu übersetzen, was mir andere Spezialitätengebiete eröffnete – wie Marketing, Public Relations, Textilien, Mode, usw.
Ich fing an, französische Werbungen in Zeitschriften zu analysieren und jagte jeden Tipp- oder Grammatik-Fehler: Ich schrieb dann der verantwortlichen Firma und bot meine Dienste an.
Du warst also proaktiv und hast die Firmen direkt kontaktiert?
Ja, das mache ich bis heute. Erst letztes Jahr habe ich Fehler im Französischen auf einem Pack Sauerkraut gesehen und dürfte dann nicht nur die Packungen, sondern auch die Broschüre der Marke korrigieren.
Was sind die grössten Herausforderungen als Freelancerin – besonders in der Schweiz?
1) Kunden zu finden
2) Sich einen Namen machen (eine Homepage allein genügt nicht)
3) Finanzen und Administration
Als Selbständige musst du selbst AHV und Pensionskasse finanzieren und für die Pensionskasse darfst du nur 20% von deinem Einkommen auf die Seite tun. Es ist okay, wenn du viel und regelmässig verdienst, nicht, aber wenn du wenig oder unregelmässig verdienst.
Wenn du für ein Übersetzungsbüro arbeitest, hast du vielleicht regelmässigere Aufträge, aber du verdienst viel weniger.
Gibt es etwas, das du gerne vor dem Start deiner Selbstständigkeit gewusst hättest?
Ja. Ich habe viel zu spät entdeckt, dass es einen Schweizer Verein für Übersetzer:innen gibt, der ASTTI. Dieser Verein gibt dir zwar keine Kund:innen, aber hilft dir mit Weiterbildungen und Symposien, wo du andere Übersetzer:innen treffen kannst.
Reflexion & Motivation
Was war dein schönster oder stolzester Moment in deiner neuen Karriere?
Immer wenn ich Komplimente oder sogar Geschenke für die geleistete Arbeit erhalten habe.
Wenn du heute noch einmal neu starten würdest – was würdest du anders machen?
Ich würde wahrscheinlich das Gleiche machen. Wobei die Bedingungen nicht mehr dieselben sind, und der Beruf sich mit neuen Technologien wie DeepL und ChatGPT total ändert. Ich habe den grössten Teil meiner Kundschaft an KI verloren und muss mich neu orientieren. Deshalb biete ich jetzt das Korrekturlesen der KI-produzierten Texte an und erfinde mich neu, indem ich Französischkonversationskurse für erwachsene Frauen im Rahmen des Frauenvereins meiner Gemeinde geben werde.
Was würdest du jemandem sagen, der noch zögert, sich beruflich umzuorientieren?
GO! Man muss sich manchmal zwingen aus der Komfort-Zone auszubrechen, aber es lohnt sich immer, weil man NEUES entdeckt und lernt.
Hast du einen Rat oder ein paar Worte für unsere Jobsuchenden?
Drei Ratschläge:
- Immer guten Service anbieten (ich habe zum Beispiel meine Kund:innen informiert, wenn etwas nicht richtig in ihren deutschen Texten war.)
- Persönlichen Kontakt mit dem Kunden pflegen (ein Besuch ist immer wertvoll), damit sie sich an DICH erinnern.
- Und natürlich Spass haben!